Jede Nacht träumt er vom Fluss. Taucht ein und gleitet in die Tiefe. Kälte verspürt er nicht, nur dieses Gleiten. Dunkelheit umschließt ihn. Dann, unten, die Hand, beinahe leuchtend. Er greift nach ihr. Jede Nacht. Schweißnass erwacht er.
Die Hiesigen leben weit vom Fluss. Sie haben die Gollach, ja, ein schmales Gewässer. Er aber träumt vom Fluss: in dem Schleusen die langen Frachtschiffe nach unten, nach oben spülen. In dem es strömt und zieht unter der Wasseroberfläche, unsichtbar und stark. Heute Morgen, als er die wenigen Habseligkeiten packte, wollte er in die andere Richtung. Jetzt ist er zum nordwestlichen Ortsausgang unterwegs. Doch wieder zum Fluss.
Zuvor hat er den Jakob abgeliefert. Und hat sich gleich verabschiedet, doch im Hinausgehen schon hat er den Jungen berichten hören, und die Frau Geuder, Jakobs Mutter, ist ihm nachgelaufen und hat seine Hand gedrückt und sich bedankt mit schwimmenden Augen. Sie weiß nicht, wie wenig Dankbarkeit er verdient und dass seine eigenen Tränen nicht für Jakob sind: für das, was dem Kind hätte zustoßen können, wenn er nicht gewesen wäre. Er, der Kindsretter.
Sie weiß nicht, dass er das falsche Kind gerettet hat.
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© Ulrike Schäfer 2009
Auszug aus: Literatur in Bayern – Vierteljahresschrift für Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft. 27. Jg. 2011, Ausgabe 104, S. 30-31.
Der Text erscheint im August / September 2015 in einem Erzählband von Ulrike Schäfer bei Klöpfer & Meyer.