Das erste Mal kommt Geiß im Juli. Seine Stimme ist weich. Geiß ist sehr höflich, ein Mann der alten Schule, denkt Hella noch. Sieben Monate später wird man ihre Leiche auf einem Felsvorsprung finden, nicht weit oberhalb des Hauses, eingerollt wie eine schlafende Katze. Doch das ist später. Erst tritt Geiß ins Wohnzimmer und sagt: Herrlich haben Sie es hier. Er kennt die Namen aller Berge, die man von Hellas Terrasse aus sieht, auch den Berg in ihrem Rücken, an dessen Fuße das Haus steht.
Abends schreit Hella ins Telefon: Wir haben einen neuen Interessenten! Die Verbindung ist wieder sehr schlecht. Was Geiß beruflich mache, fragt der Sohn, immer will er zuerst den Beruf wissen. Hella hat vergessen zu fragen. Der Sohn erinnert sie an das Limit. Die Zahl weiß Hella auswendig, auch wenn sie sich sonst vieles nicht mehr merken kann. Immer und immer hat der Sohn in den letzten Wochen die Zahl wiederholt, sie sitzt in Hellas Gedächtnis beinahe so fest wie die alten Märchen, die ganz alten, und die Kinderlieder.
Im August passiert nichts. Anfang September besichtigt ein junges Paar das Haus, dann ein älteres und eine fünfköpfige Familie. Letzterer ist das Haus zu klein, dem älteren Paar zu groß. Das junge Paar ist begeistert, meldet sich aber nicht mehr. Mitte September kommt Geiß zum zweiten Mal, diesmal mit Frau. Vom Haus und dem Blick schwärmt sie genauso wie er. Auch die alte Standuhr von Hellas Eltern wird bewundert. Sie haben Gebäck mitgebracht, Hella kocht Tee, sie sitzen auf der Terrasse und trinken Tee und essen englische Biskuits, es ist ein sehr schöner Nachmittag. Beinahe kommt es Hella so vor, als kenne man sich schon lange. Geiß sagt wieder die Namen der Berge auf, er sei ja in der Gegend aufgewachsen und habe noch viele Kontakte. Das stelle ich mir schwierig vor, sagt Frau Geiß, der Sohn in Südafrika und Sie so allein mit dem Hausverkauf. Wie eine alte Freundin sagt sie das.
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(C) Ulrike Schäfer 2010
Auszug aus: Kimmich, Dorothee / Ostrowicz, Philipp (Hg.): Wie fühlt es sich an, ein Tier zu sein? 21. Würth-Literaturpreis. Künzelsau 2010, S. 9-14.
“Das Haus” wurde mit dem ersten Preis des Würth-Literaturpreises 2010 ausgezeichnet und erscheint im August / September 2015 in einem Erzählband von Ulrike Schäfer bei Klöpfer & Meyer.