Sie standen im Vorraum des Friedhofsgebäudes, die Regenschirme lehnten aufgespannt in der Ecke. Gegenüber war die Urne aufgebahrt, weiße Plastik-Lilien rankten darum, und Michael staunte, wie schön das aussah.
Der Pfarrer trat ein, die Haare nass von der kurzen Strecke zwischen Kirche und Vorraum, und begrüßte sie mit gedämpfter Stimme, erst Mutter, dann Jonna, dann Michael. Er stellte sich neben die Urne, und dann begann die kleine Zeremonie.
An das, was der Pfarrer sagte, konnte Michael sich später nicht mehr erinnern. Nur eines blieb ihm im Gedächtnis: sterbliche Überreste. Wie furchtbar Worte seien, wenn man den Glauben nicht habe. Michael hatte den Glauben nicht, nicht mehr zu diesem Zeitpunkt, und wirklich gab es ihm einen Stich, als der Pfarrer „sterbliche Überreste“ sagte. Der Gedanke an Asche war weit weniger befremdlich.
Als der Pfarrer zu Ende gesprochen hatte, bat er, jemand von ihnen möge das Kreuz tragen. Michael streckte die Hand danach aus, doch Jonna war schneller. Beinahe hastig ergriff sie es, und sie gingen hinaus auf den Friedhof, der Pfarrer voran, hinter ihm Jonna, dann Mutter und Michael, eine kleine, sehr kleine Prozession.
Es war ein merkwürdiger Anblick, Jonna mit dem Kreuz. Sie hielt es vollkommen gerade, und es sah beinahe so aus, als schwebe es über dem Boden und Jonna klammere sich daran fest. Michael wunderte sich über diesen Gedanken, und als er Jonnas trockenes Haar sah, begriff er, dass es zu regnen aufgehört hatte und er völlig nutzlos den Schirm über Mutter und sich hielt.
Am Grab las der Pfarrer den Psalm 23 in der Übersetzung von Martin Buber, den Vater für diesen Tag ausgesucht hatte. Jonna war dieser Wunsch neu gewesen, überhaupt die Tatsache, dass zu Vaters Lebzeiten darüber gesprochen worden war, und es hatte Streit gegeben. Jetzt stand sie ganz still und folgte den Worten des Pfarrers und hielt das Kreuz dabei sehr gerade und so weit vom Körper, dass Michael ihre Kraft bewunderte. Auch wenn ich gehen muss durch die Todschatten-Schlucht, fürchte ich nichts Böses. Die Blumensträuße und Kränze auf dem Grab waren noch frisch. Das Loch war bereits ausgehoben, daneben die aufgeworfene Erde. Ich kehre zurück zu deinem Haus für die Länge der Tage.
Als der Pfarrer endete, trat ein Friedhofsbediensteter hinzu, der sich unbemerkt genähert hatte. Er trug eine Schildmütze wie ein Schaffner und hatte eine kleine Schaufel in der Hand. Vater hätte sich über den Aufzug amüsiert. Der Pfarrer fragte, ob sie sich entfernen wollten, bis die Urne beigesetzt sei. Sie sahen ihn überrascht an und verneinten dann. Der Mann ließ an einer Schnur die Urne ins Loch hinab und schaufelte es mit Erde zu.
Nach der Beisetzung fuhren sie in die Heimstättenstraße. Sie aßen eine Kleinigkeit, tranken ein Glas Wein. Sie sprachen wenig. Später ging Michael mit Mutter die Briefe durch, die gekommen waren.
Als er sich verabschieden wollte, fand er Jonna nicht gleich. Er suchte sie im Wohnzimmer, in der Küche, ging dann nach oben. Die Tür zu Vaters Arbeitszimmer war angelehnt. Jonna kauerte auf dem dicken Teppich und fuhr mit dem Finger das Muster entlang. Michael kannte die Form, die sie nachzeichnete, er kannte sie inwendig wie Jonna: die weinrote, an den Rändern unregelmäßig gezackte Raute.
Er nannte leise ihren Namen. Sie blickte hoch, stand auf und umarmte ihn kurz und fest, auf Jonna-Art, sehr kurz und sehr fest.
Als er die Treppe hinunterging, sah er, dass sie noch immer dort stand, in der Mitte des Raums, mit hängenden Armen. Sie blickte um sich, als sei ihr dieser Ort auf einmal fremd oder als müsse sie ihn sich einprägen für eine lange Zeit.
Er verabschiedete sich von Mutter und trat hinaus auf die Straße. Die Luft war kühl, es war bereits dunkel. Die Straßenlaterne warf einen bleichen Lichtkegel auf den Gehweg.
Bevor er um die Ecke bog, wandte er sich noch einmal um. Von hier aus konnte er noch das Fenster erkennen, hinter dem sich Jonna jetzt befand, den dicken Teppich unter ihren Füßen, allein.
© Ulrike Schäfer 2010
Aus: KulturGut. Magazin für die Kulturregion Würzburg. 1. Jg. 2010, Heft 2, S. 52-53.