Am Badehaus hörte der Weg nicht auf, sondern führte durch das Schilf zum Ufer. Schon jetzt ging ihr Atem schnell, sie war es nicht mehr gewohnt. Früher, mit Klaus, war sie zu Hause übern Feldweg zum Bach gelaufen, jeden Tag außer freitags.
Sie sah noch einmal zurück, um sich die Abzweigung vor dem Badehaus zu merken. Jemand lief dort, ein Mann, und bog zum Ufer ab. Drüben sah sie noch die zwei Frauen mit dem Hund, sie gingen weiter in Richtung Yachthafen. Der Hund sprang an der einen hoch, die etwas hielt und es dann fortwarf in weit ausholender Bewegung.
Neben ihr war jetzt das Wasser, gleichmäßig strömte es an und ab. Das Seitenstechen kam, sie war zu schnell. Tief ausatmen und weiter, nicht stehenbleiben. Du kannst so langsam laufen, wie du willst, du darfst nicht stehenbleiben, Stehenbleiben ist Aufgeben, hatte Klaus immer gesagt.
Sie hielt sich rechts, zum Wasser hin, machte Platz für den jungen Mann im Vorhinein, der sie bald einholen musste, und lief jetzt Schritttempo. Drüben am Hafen konnte sie die Masten der Yachten erkennen, in der Nähe des Ufers trieb ein Fischerboot.
Es war Anne gewesen, die sie zur Reise gedrängt hatte. Sie hatten am Esstisch gesessen, und Anne hatte in den Prospekten geblättert und ununterbrochen geredet: Nardevitz oder Buschvitz, es wird Zeit, Lauterbach direkt am Hafen, du musst mal raus hier, das Meer im Spätsommer, das wolltest du doch immer. Du sitzt auf dem falschen Platz, Anne, hatte sie nur gedacht. Du sitzt auf dem falschen Platz. Sie war aufgestanden und im Raum auf- und abgelaufen, zur Couch hinüber, doch Anne war sitzen geblieben.
Der Weg war jetzt sandig und von Wurzeln durchzogen, im Rauschen des Wassers hörte sie kaum ihre eigenen Schritte. Links ging es steil nach oben, dort begann schon der Wald. Wind kam auf, sie spürte ihn durch die Jacke. Der junge Mann hatte kurze Hosen getragen und T-Shirt, schien einer von denen zu sein, die niemals froren.
Klaus war immer erst nach ihr losgelaufen, an der Bank hatte er seine Übungen gemacht. Bis zum Bach hatte er sie dennoch eingeholt. Wenn er nähergekommen war, hatte sie manchmal beschleunigt, für eine Strecke Zeit waren seine Schritte im Gleichtakt mit ihren gewesen, dann trennten sie sich wieder.
Annes Prospekte hatte sie auf Klaus‘ Nachttisch gelegt und lange vergessen. Einmal hatte sie sie durchgeblättert: die Bodden, die dunklen Alleen, das Meer. Dann hatte sie sich quer aufs Bett gelegt, die Füße auf seiner Seite, den Kopf auf ihrer. Sein Bett bezog sie immer noch mit. Du solltest ein anderes Bett kaufen, hatte Anne gesagt, so geht es nicht weiter. Was weißt du übers Weitergehen, hatte sie nur gedacht.
Der Weg stieg an und verengte sich, der junge Mann würde jetzt Mühe haben, an ihr vorbeizuziehn. Es störte sie, ihn noch immer im Rücken zu haben oder jedenfalls zu vermuten. Im Laufen drehte sie sich um. Da war niemand, doch sie konnte jetzt nur wenige Meter weit blicken bis zur letzten Biegung, die Küste war nicht mehr zu sehen und auch nicht der Yachthafen, das Fischerboot verschwunden. Sie horchte, doch da war kaum mehr als dieses ewig an- und abschwellende Rauschen. Der Wind blies unaufhörlich vom Wasser her, es war nicht auszumachen, ob da Schritte waren außer ihren eigenen. Es ist einsam hier, dachte sie, es sollte nicht so einsam sein. Eine plötzliche Wut stieg hoch, ich sollte nicht hier sein und ich sollte nicht laufen, sie hatte das Laufen nie gemocht, der Gedanke war hart und kalt und ließ sich nicht abschütteln, die Kälte und Härte schnitten in sie ein, als müsse sie sich selbst bestrafen damit. Ihre Augen tränten vom Wind, von der Anstrengung, von den Abmessungen der Liebe vielleicht, Tag für Tag nebeneinander her. Die Abmessungen der Liebe im Laufen noch jetzt auf dieser Insel mit ihren Bodden und dunklen Alleen, einen Unbekannten im Rücken oder nicht, der sie längst hätte einholen müssen. Zum Wald abgebogen sein konnte er, umgekehrt sein konnte er oder ein Spiel treiben, und wenn nur in ihrem Kopf, ein Spiel, in dem Schilf vorkam und Gelegenheit und die tagsüber kopfunter einbrechende Einsamkeit der Nachsaisontage an diesem verdammten flutlosen Meer.
Sie lief.
Sie war spät nach Hause gekommen damals, es war ein Donnerstag gewesen um kurz nach halb neun. Im Sommer waren sie um halb neun losgelaufen, fast jeden Tag außer freitags. Klaus würde bereits im Flur stehen, hatte sie damals gewusst, auch in diesem Wissen hatte Wut gelegen, sie konnte sich sehr gut und würde sich immer gut an diese Wut erinnern, sie war in die Erinnerung an jenen Abend auf ewig hineinverkeilt. Stumm würde er sie ansehen, umgezogen und bereit zum Aufbruch, stumm würde er warten, bis sie fertig war, würde ihr die Trainingsjacke reichen, und sie würden loslaufen. Diese Gewohnheit des Laufs, die irgendwie gekommen war, auf ihn zu ihr übergegangen in den Abmessungen der Liebe Tag für Tag oder warum immer, hatte sie damals wütend gemacht. Tatsächlich war es still im Haus gewesen, doch Klaus hatte nicht im Flur gestanden. Sie war nach oben gelaufen ins Schlafzimmer, hatte an der Badtür gelauscht und war wieder hinuntergegangen in die Küche und von der Küche ins Wohnzimmer. Er hatte am Tisch gesessen in Straßenkleidung, die Arme auf dem Tisch verschränkt und den Kopf auf den Armen. Sie hatte ihn nie so sitzen sehen. Sie sprach ihn an und er antwortete nicht, sie wollte seine Wange berühren und schrak auf einmal zurück, hielt mitten in der Bewegung inne, wusste in dem Moment, da sie die Hand ausstreckte, wie kalt, von welcher Kälte seine Haut sein würde.
Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Der Weg stieg steil an, der Strand lag jetzt unter ihr. Die Farben waren verschwunden, das Wasser mit Grau überzogen, die Wellen schlugen gegen das Ufer, wie wenn endlos etwas zerriss. Sie keuchte. Kehr um, hätte Klaus gesagt. Vor ihr der Weg verengte sich weiter und verschwand zwischen Buschwerk. Kehr um, hätte er gesagt. Sie kehrte aber nicht um, sondern lief auf den schmalen Pfad zu. Das Rauschen war jetzt innen und außen und so laut, dass sie die Schritte nicht würde hören können, und wäre er dicht hinter ihr. Sie erreichte den Pfad, der Wald rückte näher, das Dunkel verschluckte sie, Zweige streiften über die Schläfe, dann auf einmal Weite und tief unten das offene Meer. Sie lief jetzt auf ein Plateau zu, eine breite Fläche Sand und Geröll mit Gras durchsetzt, auf der einen Seite der Wald, auf der andern das Steilufer. Sie lief auf die Kante zu. Für dieses Tag-für-Tag war es gewesen, für seine Art, sich nach ihr umzudrehen und die Lautlosigkeit, mit der er in der Tür gestanden hatte fix und fertig angezogen und bereit zum Lauf, eine Eigenart, die sie hatte auf die Palme bringen können, für die flüchtige Berührung im Bad und überhaupt die Flüchtigkeit der Wiederholung und dann Ende. Ungebremst lief sie auf die Kante zu, auf das Grau des Himmels lief sie zu. Das Meer schwoll an und ab gegen die Steilküste, ein unaufhörliches Strömen, die Nächte, die Stunden, das Auf- und Abgehen, vorbei am Schrank, in dem seine Kleider immer noch lagen, die Trainingsjacke, die Hose, die Laufschuhe. Nicht stehenbleiben, Stehenbleiben ist Aufgeben. Und sie, Fremdes und die Dunkelheit des Pfads im Rücken, das offene Meer unter ihr und vor ihr das gewölbte Grau, endlich, ein für alle Mal, blieb stehen, blieb, spät, abrupt und hart an der Kante.
© Ulrike Schäfer 2015
Liebe Ulrike,
gerade entdeckt. Total schön. Ich mag Laufen und ich mag das verdammte flutlose Meer und diesen Text mag ich auch. Danke fürs Einstellen auf deine Webseite.
Liebe Grüße, Anna aus Nottensdorf
(Du brauchst den Kommentar nicht einzustellen, das würde gar nicht zu dem klaren Text passen, ich schreib ihn trotzdem.)
Liebe Anna, dank dir, das freut mich sehr!
Dieser Text hat sich ein bisschen mit mir plagen müssen: Es gab vor 7 Jahren eine erste Fassung, die ich immer wieder in Abständen versucht habe zu überarbeiten, ohne Erfolg. Er war „fertig“, aber … nicht richtig. Der Druck einer bevorstehenden Lesung, zu dem ich noch einen Text brauchte, hat dann vor einem Jahr den Knoten gelöst.
Ich melde mich gleich noch mal per Mail. Einstweilen herzliche Grüße!
Ulrike