Von Ort und Landschaft wolle ich mich inspirieren lassen und für eine Erzählung recherchieren, die in der Lüneburger Heide spielt, hatte ich in meiner Bewerbung geschrieben. Ich konnte mich – wegen eines anderen Schreibprojekts – auf den Aufenthalt nicht so vorbereiten, wie ich mir das ursprünglich ausgemalt hatte, und das ist wahrscheinlich gut so. Nun brachte ich nach Soltau Schlafmangel, die vage Vorstellung von einer Person namens Ruth und die Idee einer Geschichte mit, an der ich vor Jahren gescheitert bin und die ich hier noch einmal ganz neu angehen wollte, mit der Lüneburger Heide als Schauplatz.
Den Schlafmangel war ich nach der ersten Nacht los, Person und Geschichte nach der zweiten. Nur der Name „Ruth“ ist geblieben, und nach diesem Ballast-Abwurf kann ich befreit endlich von vorn anfangen.
Von vorn: Das heißt bei den Riesen. Die mich schon auf der Zugfahrt begleitet haben: „Sagen und Märchen erzählen von Riesen, Hexen, Raubrittern und verliebten Trollen“, las ich, und meine Fantasie hakte sich bei den Riesen unter.
Vom Bahnhof holt mich die nette Frau Bartnik ab und fährt mit dem Auto alles ab: wo sich die Fußgängerzone befindet und wie ich von meiner November-Wohnung dorthin laufen kann (ein Katzensprung), wo der nächste Supermarkt ist, und schließlich bringt sie mich hin: zu meiner Bleibe für die nächsten dreieinhalb Wochen.
Mit der Wohnung ist es Liebe auf den ersten Blick. Was für ein geräumiges und zugleich gemütliches Zuhause! Was für eine schöne Höhle unterm Dach! Und so kaufe ich das Nötigste, packe das Nötigste aus, dämmere während der Acht-Uhr-Nachrichten weg und falle müde und beglückt ins Bett. Alles könnte sehr schön sein, wenn, ja wenn da nicht noch jemand mitgereist wäre: die innere Gouvernante.
Sie ist, wie der Name schon sagt, innen und hat daher kein Gewicht, lastet aber schwer. Jetzt nutz die Zeit!, faucht sie mir gleich am Morgen meines ersten Soltauer Tages zu, und am Abend des zweiten hat sie mich so weit: Ich bin ein Nervenbündel.
Ich habe bereits eine Tour durchs Naturschutzgebiet für den nächsten Dienstag vereinbart, unten in der Bibliothek Sagen- und Märchenbücher ausgeliehen, habe geschrieben, gelesen, Busfahrpläne und weitere Informationen besorgt, die Gegend erkundet und … es hilft nichts. Es ist nicht genug, weil der inneren Gouvernante nichts genug ist, und es ist vor allem das Falsche, in falscher Reihenfolge und falscher Gewichtung.
Du hättest, doziert sie, dich nicht mit Recherche belasten sollen! Du hättest den Aufenthalt nutzen müssen, sagt sie (als wäre er schon vorbei), um zu schreiben, zu schreiben und abermals zu schreiben! Volle Konzentration! Hier wäre die Chance gewesen! Es ist erst der zweite Tag, wende ich kraftlos ein, doch die Gouvernante kommt jetzt richtig in Fahrt. Leider hat sie das Gästebuch in die Finger bekommen. Andere beenden Bücher, wettert sie, ganze Trilogien werden hier abgeschlossen (überarbeitet, korrigiere ich verzagt), und du hüpfst von Hölzchen zu Stöckchen und kommst nicht vom Fleck! Sie kriegt vor lauter Aufregung rote Flecken am Hals, und als ihr die Puste ausgeht und sie Luft holen muss, sagt jemand: Ich möchte eigentlich spielen.
Bei so viel Dreistigkeit bleibt der Gouvernante die Luft gleich ganz weg. Es ist ein kleiner, sehr frecher Knülch, der da gerade gesprochen hat. Ich muss einen Kobold eingeschleppt haben, der hat eine Affinität zu Heide-Riesen. Und eine natürliche Abneigung gegen Gouvernanten.
Und so bricht am Morgen des dritten Tages, eines Samstags, das kreative Chaos aus. Ich gebe dem Spieltrieb des Kobolds nach, fange drei Dinge zugleich an, hüpfe von Hölzchen zu Stöckchen und komme – vom Fleck. Der Heide-Text kreist, so scheint es fürs Erste, ums Bleiben und Fortgehen, tatsächlich um Riesen und …
Du schreibst ja immer noch so altmodisches Zeug, sagt die Gouvernante. Du bist ja immer noch nicht tot, erwidere ich barsch. Sie zieht sich beleidigt zurück, nicht ohne mir noch zuzuwerfen: So tief musst du sinken, dass du Späße über den Tod machst. Ausgerechnet du! Ein berechtigter Einwand. Aber in ihrem Fall ist Härte angesagt.
Irgendwann in diesen ersten Tagen wühle ich in alten Textfassungen und stelle fest, dass die vor Jahren gescheiterte Geschichte, die ich ursprünglich hier noch einmal neu beginnen wollte, gar nicht gescheitert ist. Einer der vielen Entwürfe liest sich erstaunlich stimmig. Manchmal muss man warten können, um das zu erkennen. Leider geschieht es nicht allzu oft.
Es ist Samstag, kurz vor zehn Uhr. In diesen Tagen, die merkwürdig verschoben sind und zwischen halb sechs und sieben anfangen, fühlt sich das fast schon wie Mittag an. Die nette Frau Precht hat mir den Tipp gegeben, dass um 10.30 Uhr möglicherweise eine Stadtführung beginnt. Wenn ich sie mitmachen möchte, muss ich allmählich los. Och, sagt der Kobold, ich fühl mich nicht, legt sich auf den Boden und schläft sofort ein. Ich steige vorsichtig über ihn hinüber und koche Tee. Dann setze ich mich an den Tisch, strolche durchs Netz und erfahre, wie man Fadenheftung mit der Hand macht und wo der Soltauer Copyshop ist. Später strolche ich durch die Marktstraße, auf der heute Marktstände Gemüse, Fleisch und allerlei anderes aus der Region anbieten. Ich kaufe dies und jenes, mein Rucksack füllt sich. Vier Tage habe ich nun Waren in meine Dachklause geschleppt und schwimme in Wohlstand.
Der Kobold schläft noch, als ich zurückkomme. Er schläft immer noch, als ich „Regen“ fertigschreibe, die alte, vermeintlich misslungene Geschichte von damals. Am Ende lese ich sie aber nicht noch einmal durch, sondern verschiebe das auf später. Denn es ist inzwischen dunkel, und das ist eine dunkle Geschichte, und zu viel Dunkelheit auf den Abend ist nicht gut. Stattdessen mache ich alle Lichter an und höre Mozart. Alles außer Moll.
Draußen rauscht die Böhme, drinnen schnarcht der Kobold. Er träumt von Riesen, die über Hügel schreiten, als wär‘s ein Leichtes.
[…] es gelungen, die innere Gouvernante in Schach zu halten und dem Kobold Raum zum Spielen zu geben – siehe Anfang! Und es ist wohl auch nur deswegen […]